Den Geheimdiensten im heutigen Russland wird eine — gerade im internationalen Vergleich — auffällige Verehrung entgegengebracht. Sei es in der Popmusik, in der weit verbreiteten Fantasy-Literatur, im aktuellen Kino oder in Umfrageergebnissen — überall finden sich Anzeichen dafür, dass den Geheimdiensten ein institutionelles Charisma im Sinne von Edward Shils zukommt. Die für dieses Phänomen üblicherweise vorgebrachten Erklärungen, die auf eine angebliche Kontinuität zur Sowjetzeit, auf die Effektivität der Geheimdienste oder auf ihre Manipulationskünste gegenüber einer allzu leicht verführbaren Öffentlichkeit abstellen, können, wenn überhaupt, nur zum Teil überzeugen. Der Essay unterbreitet einen alternativen Erklärungsversuch, der bei dem zeitweiligen Verfall der Staatsmacht in der ersten Hälfte der 1990er Jahre seinen Ausgangspunkt nimmt. Die Erfahrung des teilweisen Verlusts des staatlichen Gewaltmonopols bei einem gleichzeitigen Anstieg der kriminellen Bedrohung bedeutete für die meisten Menschen in Russland eine existenzielle Erschütterung, die in dem vorherrschenden Gefühl der potenziellen Zerbrechlichkeit aller sozialen Ordnungen ihren Ausdruck findet. Vor diesem Hintergrund ist es gerade die Ambivalenz der Geheimdienste — ihr nach auβen hin vermittelter Eindruck der Makellosigkeit, während ihren verborgenen Aktionen gleichzeitig der Ruch einer zweiten, einer grausamen und gewaltsamen Wahrheit anhaftet —, die fasziniert und sie zu Hoffnungsträgern einer stabilen sozialen Ordnung werden lässt.